Endstation Sehnsucht

Die Zugstrecke von Los Mochis bis Chihuahua City zählt zu den schönsten der Welt. Von der mexikanischen Pazifikküste geht es mit dem legendären CHEPE über rund 650 km durch die spektakulären Kupferschluchten der Sierra Tarahumara. 

© Regina Fischer-Cohen

Die Sonne dürfte noch nicht mal gefrühstückt haben, doch sie glüht bereits dermaßen, dass sich die Eisenbahnschienen vor mir in der flirrenden Luft aufzulösen scheinen. Oben am wolkenlosen Himmel ziehen Rabengeier beharrlich ihre Kreise. Fehlt nur noch, dass eines von diesen verdorrten, kugelförmigen Strauchgebilden über den Bahnsteig von El Fuerte fegt. So träume ich in Gedanken vor mich hin, als ein Windhauch just da so ein Ding  vorbeitanzen lässt. Fast zeitgleich tauchen aus dem Nichts heraus drei schnauzbärtige Typen auf, die mich unter ihren Cowboyhüten mit zusammengekniffenen Augen mustern. Da zerreißt eine Mundharmonika jäh die Stille.  Okay – Ennio Morricones Lied vom Tod spielt natürlich nur in meinem Kopf. Aber wie auf Knopfdruck, denn das geschichtsträchtige Kolonialstädtchen, das hier im Nordwesten Mexikos als Tor zur Sierra Madre gilt, bedient Westernfantasien einfach aufs Schönste. Mit Landschaften, die weiter landeinwärts im Zentrum des westlichen Okzidental Gebirgszuges so urtümlich und einzigartig sind, dass selbst hartgesottene Desperados in der Einsamkeit heimlich niederknien. Bis heute führt von hier keine einzige Straße dort hin.


Wilde Kerle und Eisenbahnträume
»Nur ein echter Kerl mit Eiern aus Stahl kann die Kupferschluchten auf einem Pferd durchreiten« hatte Ramon mir vorgestern auf seiner Ranch in der Nähe von Los Mochis sichtlich amüsiert erklärt. War ja auch nur 'ne Frage, bevor ich mir das Ticket für den Ferrocarril Chihuahua Pacifico gekauft und mich tags darauf noch vor Sonnenaufgang in den Expresszug Richtung Chihuahua City gesetzt habe.
Bereits 1872 hatte der visionäre US-Amerikaner Albert K. Owen geplant, den riesigen Naturhafen in der Topolobampo Pazifikbucht von Los Mochis aus bis nach Kansas City durch eine Bahnlinie zu verbinden. Bodenschätze und Holz aus Mexiko sowie Waren aus dem Fernen Osten sollten auf diese Weise schneller und profitabler in die USA gelangen. Aber die topographischen Gegebenheiten in dieser Region sind nun mal extrem, und die mexikanische Revolution, zwei Weltkriege sowie chronisch leere Staatskassen verzögerten die Arbeiten immer wieder. Letztlich verging fast ein Jahrhundert, bis die im Volksmund kurz Chepe genannte Dampfeisenbahn 1961 endlich losrattern konnte. Von Anachronismus kann dennoch keine Rede sein. »Für viele Bewohner der Canyons stellt der Zug noch immer die wichtigste Verkehrsanbindung dar«, erzählt Filipe, ein Mayo aus dem nahegelegenen historischen Indianerdorf Los Capomas. Während des Wartens sind wir am Bahnsteig ins Plaudern gekommen sind. Doch nun beendet hektische Betriebsamkeit unser Gespräch.


Bahnhofsplaudereien
Aufgeschreckt von den schrillen Sirenen des aus Los Mochis einrollenden Expresszuges, eilen Mestizen und Indianer Kinder und Frauen heran, um den Durchreisenden auf die Schnelle Proviant und Souvenirs zu verkaufen. Menschen drängen sich, doch kaum einer steigt in den Zug. »Euch mag das Ticket günstig erscheinen, aber wir verdienen auf den Feldern oft nur 35 Pesos am Tag«, hat Felipe vorhin mit sanftmütigem Lächeln erklärt. So warten die meisten Einheimischen geduldig auf den nachfolgenden Bummelzug. Der kostet die Hälfte und hält fast auf Zuruf an jedem Bretterverschlag. Wann er heute eintreffen wird, ist allerdings mal wieder ungewiss, weil schon der Express jetzt zwei Stunden Verspätung hat. Sehr zum Ärger einiger gut betuchter Touristinnen aus Mexiko City. Aber kaum dass wir Fahrt aufgenommen haben, verstummt ihr lautes Gezeter, weil der Blick durch die getönten Panoramafenster ihnen wie auch allen anderen im Zug einfach den Atem raubt. Fast 500 Meter ist die Aqua Caliente Brücke lang, die den mächtigen Rio Fuerte überspannt. Gestern habe ich dort unten auf den reißenden Stromschnellen noch eine wilde Schlauchboottour unternommen. Jetzt halte ich beim Überqueren wieder den Atem an. Dabei ist dies zwar die längste, aber bei weitem nicht die höchste von sechsunddreißig Brücken, die noch folgen werden. Dazu erwarten uns 86 Tunnel.


Eine technische Meisterleistung
Mit jedem Meter, den sich der Chepe über Serpentinen schnaufend in die Höhe kämpft, weicht das feuchtheiße Pazifikklima allmählich frischer Bergluft. Statt übermannsgroßer Cardones Kakteen,  klammern sich Ginster,  Pinien und Kiefern ins hohe Felsgestein. Unten am Grund wachsen dagegen Palmen und Bananen. Steilwände rücken beklemmend näher, bevor es im nächsten Moment in schwindelerregender Höhe schwankend über schmale Brücken und haarnadelenge Kurven weitergeht. Als der Zug auf dem dramatischsten Abschnitt entlang der Septentrión Schlucht Hunderte Höhenmeter bezwingt, muss ich an Felipe denken. Hier, so hat er erzählt, sei sein Großvater bei einer Sprengung mit einem Arbeitertrupp zu Tode gekommen. Zum Bau der Eisenbahnlinie, die von Meeresspiegelhöhe auf knapp 2500 Meter ansteigt, wurden damals fast ausschließlich Indianer und Chinesen herangezogen. Die Qualen, die sie erlitten, mag man sich kaum vorstellen. Dafür steht die Chepe-Linie heute als Bravourstück der Technik und Ingenieure da. Eine Strecke, die so spektakulär ist, dass mein Platz im klimatisierten Abteil während der fast vierstündigen Fahrt bis Bahuichivo leer geblieben ist, weil ich fotografierend an der halboffenen Wagontür gestanden habe.


Im Land der Tarahumara Indianer
Cuira! »Cuiraga!« grüßt mich die junge Frau mit schüchternem, aber nicht uninteressiertem Seitenblick zurück. Kaum ein Weißer hat die historische Ur-Aztekensprache der Tarahumara Indianer je entschlüsseln können, und leider ist auch mein Vokabular schon erschöpft. So eilt sie weiter und wirkt mit ihrer farbenfroh gemusterten traditionellen Kleidung wie ein wunderschöner Schmetterling in diesem sattgrünen Tal.
Nach zwölf Kilometern holpriger Autofahrt haben wir die 1000 Seelengemeinde Cerocahui erreicht, die weitestgehend von Taruhamaras bewohnt wird und in deren Zentrum eine der schönsten Missionskirchen der Sierra Madre steht. Während die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert auf der Suche nach Gold und Silber die indianische Urbevölkerung skrupellos geknechtet oder getötet hat, versuchten die Jesuiten auf ihre Art, die Ungläubigen dem Himmel näher zu bringen. Mit gemischtem Erfolg, denn wie die Mayo haben auch die extrem zurückgezogen lebenden Tarahumara ihre Naturreligion bis heute beibehalten, sie einfach nur mit dem Katholizismus gedeckelt. Glücklicherweise agieren die heutigen Padres und Nonnen in der Sierra kaum noch als unnachgiebige Bekehrer, sondern vielmehr als Entwicklungshelfer. Bereits um 1950 wurde hier eine Internatsschule für Mädchen und eine Schule für Jungen gegründet. Heute werden die Kinder dort zweisprachig unterrichtet, aber die alten Stammestraditionen werden respektiert.


Scharfe Kurven, Drogen und ein Abgrund
Eigentlich bin ich hart im nehmen, aber als Alberto in einer scharfen Kurve auf einer Piste, die kaum breit genug für unseren eigenen Jeep erscheint, plötzlich an den Rand schert, sendet mir mein Magen das Frühstück zurück. Über 1500m Abgrund klaffen auf meiner Seite,  und sonst nix als Staub, nachdem ein schwarzer Truck mit dunkel getönten Scheiben fast ungebremst in Richtung Urique an uns vorbeigedonnert ist. Das waren Narcos, oder? »Was meinst du?« fragt Alberto mit naiv unschuldigem Dackelblick, denn er ist ein verantwortungsbewusster, toller Guide, und deshalb versucht er auch dem Drogenthema auszuweichen. Kaum ein Tourist ahnt, dass er hier durch eines der größten Marihuana- und Opiumanbaugebiete reist. Es ist ein Problem, gibt Alberto zu, »aber die meisten von den Jungs sind OK. Sie wollen den Tourismus, denn nur so kommt Geld in diese arme Region.« Tatsächlich darf man sich als Ausländer im Umfeld der Bahnstrecke durchaus sicher fühlen. Und solange der Drogenabsatzmarkt in den USA und Europa vorhanden ist, kann man die Mexikaner wohl kaum verfluchen. Als wir den Aussichtspunkt Cerro Gallegos erreichen, ist der Zwischenfall ohnehin vergessen. Zu überwältigend ist der Anblick der alten Silberminenstadt Urique, die, vom gleichnamigen Fluss umschlungen, winzig klein wie im Miniaturwunderland, am Boden der 1879 m tiefen Urique Schlucht erscheint.


Das größte Schluchtensystem der Welt
Sie haben genau 15 Minuten. So lange dauert der Fotostopp an der Station Divisadero, den die Betreiber des Chepe jenen Unglücklichen als Bonus gewähren, die die Kupfercanyon-Strecke als Tagestour gebucht haben. Hier stehen sie nun an dieser Bruchkante in 2200m Höhe, von 3000er Gipfeln umringt, und schluchzen, weil sie mit aller Wucht begreifen, welch unbeschreibliches Abenteuer auf ihrem Weg gewartet hat. Wie aus einer anderen Welt, so ehrfurchtgebietend ist der Anblick der drei Canyons, die hier zusammenlaufen. Dabei ist dies nur ein mikroskopisch winziger Einblick, denn die Sierra Tarahumara ist ein 60.000 km² umfassender Gebirgsstock. In ihn hat sich vor rund 25 Millionen Jahren eine Vielzahl von Schluchten hineingefressen. Tiefer als der Grand Canyon in den USA und rund vier Mal so groß, bilden sie das gewaltigste Canyon-System der Welt - die Kupferschluchten. Und das Schönste: Hier kann man noch einsame Sonnenauf- und untergänge erleben, stundenlang wandern, klettern, Mountainbike fahren oder auch reiten, ohne dass man auf einen einzigen Touristen trifft. Doch das moderne Mexiko steht vor dem Tor und ist nicht mehr lange zu stoppen. Das von Eichen- und Kiefernwäldern eingebettete Holzfäller-Städtchen Creel - der letzte, große Zwischenstopp auf meiner Reise - hat sich vom Insider-Backpaker-Treff längst zum bunten Touristenort mit bester Infrastruktur gemausert. Von hier führen bereits mehrere Schotterpisten und sogar Straßen ins Reich der Tarahumara hinein. Die Indianer selbst nennen sich Rarámuri – die leichten Füße – weil sie Ihre Berge, in deren Höhlen sie zum Teil heute noch wohnen, seit Urzeiten zu Fuß durchlaufen. Bis zu 200 Kilometer schaffen sie gut in einem einzigen Stück. Doch der Moderne werden sie nicht mehr entfliehen können, denke ich mit etwas Wehmut, während der Chepe mich in einen wunderschönen Sonnenuntergang fährt.