Auf Odysseus' Spuren

Die Irrfahrt des griechischen Sagenhelden dauerte 19 Jahre. Mit einer modernen Yacht lässt sich die Route aber auch in zwei Wochen schaffen.

erschienen in >Yacht<; Delius Klasing Verlag
© Regina Fischer-Cohen

Der Meltemi tobt. Seit Tagen schon bringt sein heißer Atem das Meer zum Kochen. Lässt Wellen wie eine Herde wildgewordener Wasserbüffel dahin preschen. Weißer Schaum vor den wütend aufgerissenen Mäulern. Jede Flucht zwecklos.

»Sturmwarnung für die mittlere Ägäis - Windstärke 6 bis 7 - in Böen 8«, hatte der Sprecher vom Seewetterdienst gestern Abend mit sonorer Stimme über Olympia-Radio verkündet. Emotionslos. Okay, das ist sein Job. Aber mal ehrlich – wir haben die schützende Bucht im Westen des Kap Sounion seit gut drei Stunden hinter uns gelassen. Achteraus existiert Griechenlands berühmteste Landmarke gerade noch als hauchdünner Schatten am Horizont. Zwei Tupfer daneben, die Inseln Kea und Kythnos. Und vorm Bug nichts als die aufgebrachte See. Also wer, bitte schön, will angesichts der realen Naturgewalten eine so nüchterne Betrachtungsweise hören? Hey Mann, so ein Sturm auf hoher See, das ist der Stoff, aus dem Legenden entstehen und Helden geboren werden.

Ja, das kommt dabei heraus, wenn eine fantasiebeflügelte Chartercrew die Dinge plötzlich aus Homers Sicht betrachtet. Schuld daran ist Tim Severin, eine Art irischer Thor Heyerdahl, der es  wahrlich versteht, mythische Seefahrten authentisch nachzuvollziehen. Egal, ob er die Legende der Argonauten oder die vom heiligen St. Brendanverfolgt,ober Sindbad, Robinson Crusoe oder Moby Dick hinterhersegeltder in Großbritannien mehrfach ausgezeichnete Autor packt das Abenteuer bei den Wurzeln. »Die Odyssee ist eine Seefahrergeschichte, verfasst von Männern, die definitiv etwas vom Galeerensegeln verstanden« schreibt er in seinem 1985 erschienenen Buch »The Ulysses Voyage«(Die Reise des Odysseus).

War es bloß Zufall, dass wir ausgerechnet dieses Exemplar in einem Antiquariat in der Athener Plaka, entdeckt haben? Nur Stunden, bevor wir im Hafen Kalamaki die »Nefeli K«, eine schmucke 43er Sun Odyssee, übernehmen sollten. Was auch immer es war, es hat uns über Nacht erwischt und mitten ins Kielwasser von Severins Expedition hineingetrieben. »Hoffentlich benötigt ihr keine neunzehn Jahre, um hierher zurückzukehren!« hatten die Mitarbeiter der Chartergesellschaft beim Abschied gescherzt. Wohlwissend, dass der Vertrag unser Abenteuer in ein enges Korsett von vierzehn Tagen schnürt.

Für Tim Severin bestätigen  solche Frotzeleieen einen weit verbreiteten Irrglauben. Der Abenteurer zeigt auf, dass in der »entkernten«  Odyssee die tatsächlich auf See verbrachte Zeit nur einer knappen Segelsaison entspricht. Eine Zeitspanne, die nach seinen Berechnungen exakt in den geographischen Erkenntnisrahmen der Mykener hineingepasst habe. Erwiesenermaßen betrieben die nämlich Handel von Kreta bis hinauf zum westlichen Peloponnes und weiter bis nach Sardinien. Ergo müsse die Legende innerhalb dieser Seeroute ihren Ursprung gefunden haben. Selbst die exotischen Plätze von Lotus-Essern und Zyklopen müssten auf  Legenden beruhen, die dem Horizont der damaligen Seefahrer entsprachen. So viel zu Severins Theorie. Davon gibt es seit der Antike viele. Der Ire allerdings liefert die Beweise für seine Behauptungen von einem äußerst überzeugenden Standpunkt: von Bord einer 54 Fuß großen und mit 20 Ruderplätzen originalgetreu nachempfundenen Bronzezeit-Galeere - der »Argo«.

»Ich wusste also, was ich tun würde: Ich würde die »Argo« von Troja bis Ithaka, Odysseus Heimat auf den Ionischen Inseln vor Griechenlands Westküste, führen - den Spuren folgen, die ein Segler der späten Bronzezeit gewählt hätte, wäre er ein umsichtiger Mann«, schreibt der Autor in seinem Vorwort. Ausgerüstet mit den historischen Seekarten, die einst zu Schliemanns sensationeller Entdeckung von Troja geführt hatten, beginnt Tim Severin im Sommer 1985 mit seiner Spurensuche im Saronischen Meer.

Für uns hätte es keinen faszinierenderen Einstieg in die Geschichte geben können als am Kap Sounion. Weithin sichtbar und dramatisch-schön thront die Ruine des Poseidon Tempels auf einem Hügel hoch überm Meer. Erbaut, an eben jenem heiligen Ort, über den die Odyssee berichtet, dort habe der »weltbeste Steuermann im Sturm« seine letzte Ruhestätte gefunden.

Als die »Argo« das Kap erreicht, haben Severin und seine Männer bereits deutlich zu spüren bekommen, wie präzise Homer die Realität der Bronzezeit-Segler schildert: ihre Nöte und Ängste, die Gefahr, die Handhabung der Galeere in Krisenphasen und die genauen Abläufe eines Sturmes. Nur ein Beispiel sind die dramatischen Stunden, in denen die »Argo« vom aufbrausenden Nordwind und der starken, nach Süden verlaufenden Strömung durch den Doro-Kanal getrieben wird. Bei einer Geschwindigkeit von sechs bis sieben Knoten kann die Galeere dem Druck, der auf sie einwirkenden Kräfte, kaum noch Widerstand leisten. Nur von Lederbändern zusammengehalten, drohen die Getriebezähne der Zwillingssteuerruder auseinander zu brechen. Hautnah erlebt die Crew der »Argo«, wie schnell Wetter- und Meeresbedingungen die Haltbarkeit der Taue, Segel und Spiere überfordern konnten. Ohne Zweifel waren Bronzezeit-Segler oft tage- und wochenlang gezwungen auf günstigere Winde zu warten. Ein Warten, das Homer mit fantasievollen Erlebnissen aufzufüllen wusste.

Die Zeiten haben sich verändert und mit ihnen, das Material. Am Rumpf der »Nefeli K« beißt sich Poseidons Meute vergeblich die Zähne aus. Durchgeschüttelt, aber unversehrt spuckt uns die ungemütliche Kreuzsee nach fast viereinhalb Stunden und 27 zurückgelegten Seemeilen im Süden der Insel  Poros einfach wieder aus. Nur das schmale Fahrwasser des Stenon Perou trennt hier das Eiland von der Festlandsküste des Peloponnes. Noch einmal fordern Untiefen und Gegenverkehr die Aufmerksamkeit der ganzen Crew. Doch immer wieder zieht es die Blicke jetzt nach Steuerbord. Wie eine Filmkulisse spult sich dort das auf einer hügeligen Halbinsel vorgelagerte Städtchen von Poros in seiner ganzen Schönheit ab. Glück gehabt! Im Hafen, auf der Westseite, erwischen wir die allerletzte Lücke. Angesichts des starken Schwells, jetzt nur schnell reichlich Kette stecken und die »Nefeli K« ordentlich abfendern. Heute Nacht, das ist klar, werden die lauschigen Tavernen und Bars dieses Ortes erobert. Und wer wollte danach noch Ankerwache schieben müssen? Hoppla! - hatte Homer seinen Figuren  nicht ganz ähnliche Gedanken zugeschrieben? 

Am folgenden Morgen hat der Wettergott ein Einsehen. Bei nordwestlichen  Winden und sanften 4 Beaufort setzen wir Genua und Groß und halten Kurs auf das 25 Seemeilen südwestlich gelegene Spetses. Ausgrabungen haben an den Tag gebracht, dass die pinienbewaldete Insel bereits von Odysseus’ Zeitgenossen besiedelt wurde. An einem  der Nachfahren liegt Severin und seiner Crew besonders viel: Vasilis Delimitros. Er ist der Schiffszimmermann, der die »Argo« 1981 eigenhändig gebaut hat. In Rekordzeit von sechs Monaten mit nur einem Assistenten. Keine Frage, diesen Mann müssen auch wir treffen. Mit den satten 9,5 Knoten über Grund, mit denen die »Nefeli K« momentan dem Ziel entgegenrauscht, könnten wir unser Ziel gegen Mittag erreichen.

Andererseits - Hydra, die Insel, der Reichen und Schönen, deren Ansteuerung zu den schönsten Griechenlands zählt, liegt jetzt fast auf Kurs. Hätte Odysseus sich diese Chance entgehen lassen? Wir jedenfalls nicht! Der Anblick der harschen Felsinsel, von der die pastellfarbenen Häuser der kleinen Stadt herüberstrahlen, ist jede Extrameile wert. Wen stört es da, dass kein einziger Liegeplatz im Hafen frei ist? Sehen – genießen – weiterziehen. Aber dann scheint es, als wollten die griechischen Götter uns eine Lektion erteilen. Kaum haben wir das hübsche Kleinod wieder verlassen und die Wetterscheide bei Dokos passiert, bricht das Unheil aus sprichwörtlich heiterem Himmel heraus. Binnen Sekunden tanzen weiße Gischtteufel auf der eben noch ruhigen See. Ein aufbrausender Südwind mit tückischen Fallböen zwingt zum sofortigen Reffen der Segel. Unwillkürlich kreisen die Gedanken in diesem Moment um Severins Bericht: »Der teilweise Verlust von Agamemnons Flotte unterstreicht eine brutale Tatsache der Seefahrt zur Bronzezeit: Wenn die Galeeren von einem mediterranen Sturm erwischt wurden, hatte die Crew nicht die Kraft, um sich aus der Gefahrenzone herauszurudern. An Bord der »Argo« lernten wir auf die harte Tour, dass selbst ein mäßiger Wind der Herrscher über eine Rudermannschaft ist, und eine Galeere das Spielzeug des Windes.« Wir versprechen, nie wieder über die Dieselausdunstungen  unseres PS-starken Motors zu meckern, der uns jetzt gegen den Sturm von vorn weiterhilft..

Der unglaubliche Charme, den das autofreie Inselstädtchen Spetses versprüht, überwältigt schon bei der Ansteuerung. Diese Mischung aus tiefer Ursprünglichkeit und unaufdringlichem Wohlstand. Geprägt durch Pferdekutschen und liebevoll renovierte Fischerhäuser ebenso wie durch neoklassische Villen und duftende Gärten. Vor allem aber auch durch die spröde Schönheit des alten Hafens mit den maroden Werften und Werkstattschuppen. Weshalb nur findet sich nirgends ein  Hinweis auf den berühmtesten Bootsbauer des Ortes?

 »Sie haben ihn vergessen. So wie das ganze Handwerk, für das die Insel einst in Europa berühmt war«, erklärt Takis Belesis, Sohn des hiesigen Schiffsausrüsters und selbst Bootsbauer in dritter Generation. Direkt vor der Tür ankert sein Gesellenstück - ein prachtvoller Teaksegler. Bestes afrikanisches Holz, nach alter, geheimer Familientradition verarbeitet. 70.000 Euro würde er für die Anfertigung dieser neun Meter langen Yacht verlangen. Genau ein Jahr Arbeit, für ihn und einen Assistenten. »Aber  Holzboote sind kaum noch gefragt«, bedauert der junge Mann schulterzuckend.

Und Vasilis? Fast verlegen und eher widerwillig schiebt sich der Gesuchte unter der Abdeckplane eines hölzernen Bootsrumpfes hervor. Mitte  siebzig soll er sein, vielleicht auch mehr. Sein Äußeres verrät, dass er keineswegs zum Spaß an dieser Yacht arbeitet. »»Argo« in England«, erklärt er radebrechend. Und für den Moment unseres Händedrucks glüht die Vergangenheit mit einem Funken Stolz in seinen Augen auf. Ja, selbstverständlich dürfen wir einen Blick auf seine Arbeit werfen. Ein griechischer Millionär hat ihm den Auftrag erteilt. Wie viele Boote er in seinem Leben gebaut hat? »Ach, sicher mehr als hundert« meint er abwesend. Nichts scheint von der einstigen Glorie übriggeblieben zu sein. Und dennoch, die Legende von dem begnadeten Bootsbauer wird  in  Severins Erzählung noch lange weiterleben.

Es schmerzt, die kristallklaren Südbuchten von Spetses zurückzulassen. Aber das Seglerherz frohlockt. Der mit 6 Beaufort daherkommende Nordwind verspricht einen schnellen Schlag zum Süden des Peloponnes.
»Ich hätte meine Heimat sicher und problemlos erreichen sollen, hätten sich nicht die Dünung, die Strömung und der Nordwind vereint, um mich vom Kurs abkommen und hinter Kythira vorbeitreiben zu lassen«, zitiert Severin den letzten Satz, mit dem Homer seinen Helden am Kap Malea in eine bis dato unbekannte, abenteuerliche Welt entlässt. Für Severin ist diese allerdings nachvollziehbarer geworden. Zweifelsfrei entschlüsselt er den Hinweis auf den Meltemi. Der Sommerwind kann bekanntlich tagelang mit beständigen 4 bis 6 Beaufort von Norden her über das Meer wehen. Er kann allerdings auch ganz anders.

Kein Wölkchen am Himmel warnt uns, als der Wind am Nachmittag plötzlich zum Sturm ausbricht. Unglaublich, mit welcher Gewalt die gischtgeladenen Böen an der leeseitigen Gebirgsküste des Peloponnes einfallen. Zum Glück ist das Kap noch weit entfernt, und das GPS macht Mut. Käme man sonst vielleicht auf den Gedanken, direkt auf eine Felswand zuzuhalten, um dahinter Schutz zu suchen? Selbst aus nächster Nähe bleibt die enge Einfahrt zwischen den bedrohlichen Kliffs von Gerakas vollkommen uneinsehbar. Umso erstaunlicher sind die Ruinenfelder einer Akropolis, die beweisen, dass die Mykener den rettenden Hafen durchaus schon kannten. Dummerweise kennen ihn natürlich auch die Flottillenführer von heute. Der Witz ist perfekt: Ausgerechnet im wohl verschlafensten Nest der gesamten Ostküste geht es zu wie in einer Filmszene von »Eis am Stiel«. Zehn Yachten, angehäuft mit einer Horde angetrunkener amerikanischer Highschool-Kids. Na Prosit! Der Sturm erscheint uns dann doch als das bei weitem geringere Übel. Kurzentschlossen drehen wir wieder ab.

Der letzte sichere Hafen vor Rundung des Kaps muss schon immer eine magische Anziehungskraft auf Seefahrer ausgeübt haben. Markant wie eine Miniversion des Felsen von Gibraltar zeigt sich nach nur fünf Seemeilen südlich die steil aufragende Halbinsel von Monemvasia. Nicht nur Schutzsuchende bekommen bei diesem Anblick leuchtende Augen. Erst vor ein paar Jahren haben wohlhabende Geschäftsleute die prachtvollen byzantinisch-venezianischen Ruinen am Fels zu neuem Leben erweckt. Jetzt ist es fast so, als würde man direkt in die mittelalterliche Blütezeit dieser Altstadt hineinsteuern. Wenn man schon einweht, dann hier: mit Blick auf den majestätischen Felsen und das raue, südliche Hinterland des Peloponnes.

Den Augenblick, in dem Tim Severin erkennt, dass das Risiko zu groß ist, die »Argo« in die Meeresenge von Kythira hineinzusegeln, schildert er so: »Ich betrachtete die Oberfläche des Meeres zwischen dem Kap und dem entfernten Inselumriss von Kythira. Immer stärker wurde das Wasser von brechenden Wellen gefleckt. Der Sturm nahm eindeutig zu.«  Mit aller Kraft versuchen die Männer, das Schiff zu wenden. Aber die Galeere driftet immer weiter hinaus auf die offene See. Erst in letzter Sekunde und nur mit äußerster Kraft gelingt es unter Zuhilfenahme des Dingis, das Ruderboot wieder in Richtung Land zu bewegen. Erneut zeigt sich, dass schon ein leichter Gegenwind jede Anstrengung der Ruderer zunichtemacht. Es waren also wirklich die  Strömung, der Wind und die aufgebrachte See, die Odysseus‘ und auch Menelaus‘ Galeeren einst
davontrugen.

Doch wie geht es weiter?  Nach Severins Berechnungen treibt eine Galeere binnen 24 Stunden rund 30 Meilen weit, wenn ablandige Winde zwischen 4 und  7 Beaufort wehen. Mit den von Homer vorgegebenen neun Reisetagen multipliziert, ergibt das 270 Meilen. Der Nordwind müsste die Galeeren somit direkt an die Küste des  heutigen Libyen geweht haben. Tatsächlich spürt Severin dort eine Frucht auf, die zur Geschichte über die Lotusesser inspiriert haben dürfte.

Gängige Theorien siedeln diesen Teil der Odyssee allerdings im heutigen Djerba an. Sie gehen davon aus, dass eine Galeere bei starkem Wind bis zu 600 Meilen schaffen kann. »Theoretisch ja«, bestätigt Severin. Aber die Logik spreche dagegen. »Wer würde sich  weiter als nötig vom Ziel entfernen wollen?« fragt der Autor. Er ist sicher, jeder erfahrene Segler würde selbstverständlich die Segelfläche seines Schiffes auf ein Minimum reduzieren, um die Abdrift so gering wie möglich zu halten.

Als sich die »Nefeli K« in der Morgendämmerung aufs Meer hinausschiebt, ist selbst die Genua auf Taschentuchgröße reduziert. Libyen muss es für uns nun wirklich nicht sein. Der starke Schwell, der in der letzten Nacht das Ausbringen eines zweiten Bugankers erforderlich gemacht hatte, war Warnung genug. Nichtsdestotrotz, die Zeit drängt, wenn wir der »Argo« noch bis nach Kreta folgen wollen. Severin argumentiert nämlich, dass sich die in Nordafrika Gestrandeten nicht wirklich verirrt haben konnten. Schließlich navigierten Bronzezeit-Segler mithilfe von Landmarken und anhand der Gestirne

Homer erwähnt wilde Ziegen und menschenfressende Zyklopen. Hinweise, die Severin am Ende auf die Lösung des Rätsels führen. Die echte Europäische Wildziege war in der minoischen Kunst ein bedeutendes Symbol, und Kreta gilt als Urheimat dieses Tieres. Außerdem hält sich im Süden der Insel bis heute eine alte Legende, nach der dort einst dreiäugige, kannibalische Riesen gelebt haben sollen. Die Galeeren mussten somit direkt bis an Kretas Südküste zurückgesegelt sein. Rückblickend auf die angesteuerten Landmarken seines Törns entschlüsselt der Buchautor das logische Muster der Odyssee: Homer habe seine Erzählung offensichtlich entlang der wichtigsten Wendepunkte einer altbekannten See- und Handelsroute gelegt. Im traditionellen Stil nutzte er dabei die lokalen Legenden aus der Fremde, um sie in die Geschichte der Irrfahrt einzuspinnen. 

Aiolos, Gott der Winde, was tust du uns Charterseglern der Jetztzeit an? Einen Katzensprung von der Nordwestküste Kretas entfernt liegt Gramvousa, deine sagenumwobene Felsinsel. Wohlbehütet hatten die Galeerensegler dort vor dem großen Schlag gen Norden warten können, bis du die unüberwindbaren Gegenwinde in einem Beutel wegsperrtest. Korykos, so nannten sie den Stützpunkt - »die Ledertasche«. Eindeutiger hätte der Hinweis auf deine Legende wirklich nicht sein können. Uns modernen Yachties bleibt jedoch keine Zeit, um auf deine Gunst zu warten.
»Sturmwarnung für die südliche Ägäis« verkündet die emotionslose Stimme wieder einmal über Funk. Achteraus verschwindet die größte Insel Griechenlands am Horizont. Vor uns nichts als eine aufgebrachte See. Dank der geballten Pferdekraft unseres Motors vermag Poseidons heranstampfende Meute uns jedoch nicht mehr aufzuhalten.