Auf den Spuren der Voyageurs im Land der Bären und Wölfe

erschienen in »Terra – Faszination unserer Erde«;Tecklenborg Verlag
© Regina Fischer-Cohen

Ruhig wie ein Vogel gleitet unsere kleine Cessna im Sonnenlicht dahin. Rauscht mit ihrem Schatten über spiegelnde Wasserflächen hinweg. Nur, um ihn gleich darauf wieder im dunklen Grün dichter Wälder zu verlieren. Waren es im äußersten Süden von Minnesota noch Farmen mit endlosen Weiden und Feldern, die die Szenerie bestimmten, so lässt sich jetzt – wo die US-kanadische Grenze langsam näher rückt - immer seltener eine Ansiedlung ausmachen. Und dann zeigt sich auch schon das Ziel mit einem atemberaubenden Patchwork aus glitzernden Seen, Flüssen und bewaldeten Felsinseln.
»This is the final end of the roads …«, hatte Pilot Pete kurz vor der Landung in International Falls noch gescherzt. Beim Blick aus dem Cockpit hätte man es fast glauben mögen. Aber natürlich führt der Highway in der verschlafenen Kleinstadt an der Grenze zu Kanada weiter. Schließlich ist und war dies schon immer ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt im Handelsverkehr zwischen Minnesota und Ontario. Vierundzwanzig Kilometer weiter gen Osten allerdings, endet am Rainy Lake Besucherzentrum dann tatsächlich jede Autofahrt. Wer das Herz des fast 3.000 Quadratkilometer großen Voyageurs National Park erobern will, kann dies nur über die fünf großen, ineinanderfließenden Seen Rainy, Kabetogama, Namakan, Sand Point und Crane.

»Mit Himmel gefärbtes Wasser«, so nannten die indianischen Ureinwohner einst ihre Heimat im Nordosten Minnesotas. Eine Allegorie, die alles und noch viel mehr über das Superior Upland besagt. Um zu verstehen, muss man sich nur für eine Weile mit dem Boot durch die archaische Parklandschaft treiben lassen. Eintauchen, in jenes Labyrinth aus dreißig Seen, über neunhundert Inseln und unzähligen Buchten. Gerade jetzt, wo die Abendsonne glutrot von den Spitzen der Nadelbäume tropft, sich dann langsam zu deren Füßen über die mit Flechten und Moosen bewachsenen Granitfelsen schiebt, um von dort auf den Wellen des Rainy Lakes davonzutanzen. Majestätisch, wie es sich für das Wappentier der USA gehört, thront ein Weißkopfseeadler auf einer Insel hoch oben im Geäst einer mächtigen Rotkiefer. Feine Nebelschleier steigen unterdessen über dem Wasser empor. Bereichern das grandiose Schauspiel der Natur, das vom Konzert der Seetaucher noch aufs Schönste untermalt wird, sobald man sich einer Schilfzone nur nähert. Wie zwei Flötenspieler, die sich im Duett herausfordern, rufen die Vögel einander im steten Wechsel zu. Es sind einsame, wehmütige Töne, die uns begleiten, während wir im ständigen Slalom um große, kleine und winzige Inseln herumziehen. Immer an der bewaldeten Kabetogama Landzunge entlang, die sich im Zentrum des Nationalparks mit unzähligen Buchten ergießt. Vollkommen von Seen  umspült und nur über einen schmalen Landsteg im Westen mit dem Festland verbunden, gehört sie den Bären, Wölfen und vielen anderen, selten gewordenen Tiere. Der Mensch ist in dieser von Wasseradern und Mooren durchzogenen Wildnis nur im Kanu oder auf einer der vier vorgegebenen Wanderrouten Willkommen.

Fern ab von allen Straßen und Siedlungen reduziert sich das hektische Leben mit einem Schlag aufs elementare. Dabei ist es so faszinierend und facettenreich wie ein Blick durchs Kaleidoskop. Statt immer nur auf die großen Attraktionen zu lauern, beginnt man, über die kleinen Dinge zu staunen. Man träumt mit offenen Augen. Durchlebt ständig diese gewisse Spannung, dieses Entdeckerfieber, was einen wohl hinter der nächsten Bucht erwartet. Wie etwa vorhin, die Schwarzbärin, die mit ihren beiden Jungen unvermutet auf einer Lichtung am Ufer erschien. Oder die Schar weißer Pelikane, die von uns aufgeschreckt, mit laut klatschenden Flügeln davonflog. Wer weiß - gut möglich, dass uns vor rund zweihundert Jahren auf dieser Route irgendwann der Gesang der Voyageurs entgegen gehallt wäre. Und dann hätten wir sie wohl auch schon in Sichtweite gehabt. Jene französisch-kanadischen Abenteurer, um die sich bis heute ein Heldenmythus rankt und nach denen dieser Nationalpark benannt wurde.
Acht kräftige Kerle in einem Kanu aus Birkenrinde. Lautstark im Chor hätten sie ihre Lieder über die Liebe, das Saufen und die Einsamkeit vor sich hin gesungen - die Paddel dabei stets im Takt kraftvoll und schnell durchs Wasser gezogen. Ganze sechzig Schlag pro Minute. Bis zu sechzehn Stunden am Tag, sofern das Wetter es irgendwie zuließ. Es war ein knochenharter Job, den die Voyageurs bis ins frühe 19. Jahrhundert für die großen Pelzhandelsgesellschaften erledigten. Als Handelsreisende sozusagen, die den Indianern Perlen, Gewehre und andere europäische Waren im Tausch gegen Pelze brachten, zogen sie von Montreal aus über die nahezu durchgehenden Wasserstraßen bis tief in den kanadischen Nordwesten. Eine Route, mit der später der Grenzverlauf zwischen den USA und Kanada vertraglich festgelegt wurde und auf der den Indianern und Voyageurs noch viele andere folgen sollten.

Little American Island im Norden der Black Bay Narrows zeugt heute noch vom kurzen Goldrausch in der Rainy Lake Region. Nachdem man dort 1893 das kostbare Edelmetall in einer Quarzader entdeckt hatte, fielen die Glücksritter gleich in Scharen ein. Overson’s Fish Camp, weiter östlich in der Alder Creek, erinnert dagegen an die kommerzielle Fischerei, die in den 20er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. »Es waren Tonnen von Zander, Schwarzbarsch und Hecht, die wir in den Netzen hatten«, schwärmt Jo, ein rüstiger Pensionär, den wir unterwegs auf seinem Motorboot treffen. Wie schon sein Vater besaß auch er eine Fischerei Konzession für diese Region. Heute, so sagt er, angle er »nur noch aus Spaß an der Freud«. Dabei verschweigt er, dass die extensive Ausbeutung der Seen und Flüsse die meisten Fischer am Ende ihre Existenz gekostet hat. Der kostbare Stör, zum Beispiel, den die Indianer früher mit Speeren an den Kettle Falls Stromschnellen erbeutet hatten, war nach dem Einsatz der Netze schon bald so gut wie ausgerottet. Raubbau an der Natur, der von den Holzfällern in jenen Tagen noch übertroffen wurde. Mit ihren Sägen zerstörten sie ganze Urwälder und brachten Millionen jahrhundertealter Weiß- und Rotkiefern zu Fall. »Der technische Fortschritt machte die Menschen euphorisch. Für sie war es sicher eine unglaublich spannende Zeit«, meint Bob, ein Nachfahre der Williams Familie, die damals das historische Kettle Falls Hotel im Osten der Kabetogama Halbinsel betrieben hat.  Dort, wo sich die Wasserwege kreuzen und eine kanadische Landzunge unvermutet im Süden der USA auftaucht, kann man die Historie förmlich atmen. Klar, weshalb das Hotel als einziges Unternehmen im Naturschutzgebiet verbleiben durfte. Ein eher notwendiges Übel sind dagegen die beiden Staudämme, die hier 1905 über den einst rauschenden Squirrel und Kettle Falls Kaskaden entstanden. Mit einem weiteren Damm am Ablauf des Rainy Lake wurde so für die Papiermühle in International Falls und deren Pendant auf kanadischer Seite heute eine konstante Wasserzufuhr gesichert. Für die Produktion unverzichtbar, fürs ökologische Gleichgewicht jedoch verheerend. Doch als größte Arbeitgeber garantieren die Betriebe den Menschen in dieser Abgeschiedenheit seit Generationen schon Arbeit und Lohn.

In rasanter Zickzack-Fahrt geht es mit dem Wassertaxi von der Kettle Falls Marina am Namakan See über den Sand Point und Crane Lake direkt bis ans südöstliche Ende des Parks. Sozusagen fließend setzt sich der Naturschutz dort mit der angrenzenden Boundary Waters Canoe Area Wilderness (kurz BWCAW) fort. Hinter der etwas umständlichen Bezeichnung verbirgt sich eines der schönsten und größten Rudergebiete der Welt. Ein Biotop mit über 1000 Seen und endlos verschlungenen Wasserwegen. Theoretisch könnte man sich also auch heute noch über den historischen Pelzhandelshighway bis ans 483 Kilometer entfernte Ufer der Großen Seen durchschlagen. In der Praxis wird man sich aus Zeitmangel aber wohl eher für einen Teilbereich entscheiden. Unser Wunschziel, der Little Indian Sioux River, ist mit dem Auto in gut einer Stunde fast erreicht. Ein kurzer Stopp in der hübschen Kleinstadt Ely, einer Mischung aus Schweizer Alpendorf und Disneyland, versteht sich dabei von selbst. Einsam, inmitten des Superior National Forest gelegen, dient sie als Tor zur BWCAW und bietet eine willkommene Einkaufsmöglichkeit, bevor man sich in die Wildnis hinein begibt.
Es beginnt mit einem beschwerlichen Fußmarsch, denn natürlich muss das Auto auch hier zurückbleiben. Schweißgebadet vom Transport unserer schwer beladenen Kanus gleiten wir schließlich in den Fluten des Little Indian Rivers dahin. Anders als im Voyageurs National Park, dürfen in der BWCAW nur 25 Prozent der Gewässer mit Motorbooten befahren werden. Der Rest präsentiert sich wie vor Hunderten von Jahren. Kein Wegweiser, keine Orientierungsbojen. Nichts. Das Gefühl der Einsamkeit ist einfach allgegenwärtig. Aber da ist vor allem die Freude, dieser innere Jubel, dass es solche Paradiese auf Erden noch gibt.Eigentlich müsste man sogar ehrfürchtig niederknien, denn wo immer man im Superior Upland übers nackte Felsgestein schreitet, hat man schnell bis zu 2.7 Millionen Jahre alte Erdgeschichte unter den Füßen. Land, das sich aufwarf und erodierte, sich erhitzte und verbog und schließlich von mindestens vier Gletscherperioden geformt wurde. Der Nordosten Minnesotas gehört zum südlichen Teil des Laurentian Plateaus und damit zu einem der größten und ältesten geologischen Kontinentalschilder der Welt. Nach der letzten Gletscherschmelze vor etwa 11.000 Jahren haben Wind und Vögel dann Pflanzensamen und Sporen aus südlicheren Regionen herangetragen. So konnte sich mit deren Leben und Sterben über die Jahrtausende hinweg eine hauchdünne Erdschicht bilden. Erbärmlich wenig und doch genug, um ganzen Wäldern hier Halt zu geben.

Nach Tagen voller Sonnenschein sorgt ein ständiger Nordwind für merkliche Abkühlung. Was durchaus auch sein Gutes hat. Praktisch über Nacht hat sich damit in den Kronen der Laubbäume das Feuerwerk des Indian Summer entzündet. Ahorn, Erlen und Papierbirken erstrahlen plötzlich in den schönsten Farbschattierungen. Leuchtendes Scharlachrot und Magenta neben Gelbgrün und Gold -  wunderschön getragen vom dunklen Grün der Kiefern und Balsamföhren. Ein prächtiger Rahmen für den tosenden Devil’s Cascade Wasserfall, über dem wir in der ersten Nacht campieren. Bloß nicht daran denken, aber mit dem Wetterumschwung könnten jetzt im September schon bald wieder die ersten Nachtfröste einsetzen und der ganzen Pracht ein schnelles Ende setzen. Hier, in der südlichen borealen Waldzone, wo die letzte Eiseskälte noch im späten Mai auftreten kann, bleibt der Natur kaum mehr als eine  kurze Vegetationsperiode von 100 Tagen. Umso mehr gilt es, diese kurze Schönwetterphase zu nutzen.
Zurück in Ely geht es mit dem Auto weiter durch die Wälder bis ins Ojibwe Indianerreservat Grand Portage. Dort am Nordwestufer des Superiorsees hatte die französisch-kanadische North West Company 1779 ihren größten Pelzhandelsaußenposten errichtet. Heute befindet sich in den originalgetreu nachgebauten Gebäuden ein äußerst lebendiges Museum, das den Besucher mitten ins damalige Leben hineinkatapultiert. In die Zeit der großen Pow Wows, als Hunderte von Indianern und Voyageurs hier gemeinsam feierten, nachdem die kostbaren Pelze aus den Winterdepots herangeschafft waren.
Anders als den meisten anderen Indianerstämmen geht es den Minnesota Ojibwe heutzutage wirtschaftlich ausgesprochen gut. Kaum zu glauben, aber inmitten unberührter Pinienwälder und Seegraswiesen versteckt sich in ihrem Reservat ein schillerndes Zockerparadies. Las Vegas en miniature im Nirgendwo der USA, dafür aber nur wenige Kilometer von der kanadischen Großstadt Thunder Bay entfernt. Das lässt die Kassen des Reservats klingeln, obwohl das US-Bundesstaatengesetz eigentlich jegliches Glücksspiel verbietet. »Manchmal macht es sich in diesem Land tatsächlich bezahlt, Angehöriger einer Minderheit mit gesetzlichem Sonderstatus zu sein«, spöttelt John Morrin, ein Mitglied des Ältestenrates. Das Lächeln des Mannes, der in seiner Sprache Giniw Gitchada heißt, wirkt dabei eher nachdenklich. Trotz ihres relativen Wohlstands leben die Ojibwe hier in aller Bescheidenheit. Sie nutzen ihr Geld vielmehr, um das Land ihrer Ahnen, das ihnen heilig ist, vor Spekulanten zu bewahren. Erst seit einigen Jahrzehnten ist es den Ureinwohnern Nordamerikas überhaupt wieder gestattet, ihre Kultur öffentlich auszuleben. Bis dahin durften sie laut US-Gesetz nicht einmal die eigene Sprache an ihre Kinder weitergeben. Zwar versucht man, die traditionellen Riten und Gebräuche wieder aufleben zu lassen, aber allzu vieles ging bereits verloren.
»Keiner meiner Vorfahren wäre früher auf den Superiorsee hinausgerudert, ohne zuvor ein Tabakopfer zu vollbringen«, schmunzelt John, der von unserer morgigen Überfahrt zur Isle Royale erfahren hat. Der morastige Pfad, den er uns dann entlangführt, ist durch tiefhängende Äste und umgestürzte Bäume kaum passierbar. Bis zu den Waden im Schlamm versunken, geht es irgendwann nur noch von Felsbrocken zu Felsbrocken und über Baumstümpfe hüpfend voran. Ein mühseliger Marsch, den man alleine sicher nie unternommen hätte. Und genau so soll es auch sein, denn plötzlich taucht auf einem Felsen über dem Superiorsee jene markant krumme Zeder auf, die den Ojibwe seit Menschengedenken heilig ist: Manito Geezhigaynce - »the little spirit cedar tree«. Und hier ist es nun wirklich ein strahlendes Lächeln, mit dem John ein paar Tabakblätter aus seiner Hosentasche hervorzaubert, um sie vom Wind davontragen zu lassen.

Er ist der kälteste, tiefste und unberechenbarste der fünf Seen, die gemeinsam die Great Lakes bilden. Das größte Süßwasserbecken der Erde. See ist dabei mehr als irreführend, denn der Superior kommt daher wie ein gewaltiger Ozean. Nur gut, dass Grand Portage während der Überfahrt zur Isle Royal stets in Sichtweite liegt und Manitou die Wogen heute tatsächlich ruhig hält.
Mit ihrem waschbrettartigen Erscheinungsbild präsentiert sich die 2300 Quadratkilometer große Insel als raue, unwirtliche Schönheit. Doch für die ausgehungerten Wölfe, die sich im strengen Winter 1949 übers Eis dorthin schleppten, war es das Paradies. Elche, die Jahrzehnte zuvor bereits herübergeschwommen waren, hatten sich dort ohne Feinde so sehr vermehrt, dass das Futter längst nicht mehr für alle reichte und viele bereits verhungert waren. Der perfekte Zeitpunkt für das Zusammentreffen beider Spezies. Doch würden die Wölfe das Gleichgewicht in der Natur auf Dauer wieder herstellen? Einige Wissenschaftler beschlossen damals, dieser Frage in einer einmaligen Langzeitstudie nachzugehen. Seither ist auf der isolierten Insel jegliches Eingreifen von Menschen verboten. Dabei hat sich schnell gezeigt, dass der Wolf keineswegs das blutrünstige Monster ist, als das er immer dargestellt wurde. »So viel ist klar, doch es bleiben 1.000 ungelöste Fragen«, sinniert David, ein Biologe, mit dem wir am Abend gemeinsam am Lagerfeuer sitzen. Es ist eine eiskalte, sternenklare Vollmondnacht, in der das leise Jaulen der Wölfe aus der Ferne zu uns herüberhallt. Ein letztes Mal wird uns ihr vertrauter Gesang heute noch in den Schlaf wiegen, bevor es morgen nach Hause geht. »Wir sind alle Suchende, die sich auf einer großen Reise befinden, und dabei müssen wir uns am Ende doch nur selbst finden«, hatte John gestern zum Abschied weise bemerkt. Ich denke, dass wir diesem Ziel in den letzten Wochen hier ein ganz großes Stück näher gerückt sind.