Auf den Spuren der Voyageurs im Land der Bären und Wölfeerschienen in »Terra – Faszination unserer Erde«;Tecklenborg Verlag Ruhig wie ein Vogel gleitet unsere kleine Cessna im Sonnenlicht dahin. Rauscht mit ihrem Schatten über spiegelnde Wasserflächen hinweg. Nur, um ihn gleich darauf wieder im dunklen Grün dichter Wälder zu verlieren. Waren es im äußersten Süden von Minnesota noch Farmen mit endlosen Weiden und Feldern, die die Szenerie bestimmten, so lässt sich jetzt – wo die US-kanadische Grenze langsam näher rückt - immer seltener eine Ansiedlung ausmachen. Und dann zeigt sich auch schon das Ziel mit einem atemberaubenden Patchwork aus glitzernden Seen, Flüssen und bewaldeten Felsinseln. »Mit Himmel gefärbtes Wasser«, so nannten die indianischen Ureinwohner einst ihre Heimat im Nordosten Minnesotas. Eine Allegorie, die alles und noch viel mehr über das Superior Upland besagt. Um zu verstehen, muss man sich nur für eine Weile mit dem Boot durch die archaische Parklandschaft treiben lassen. Eintauchen, in jenes Labyrinth aus dreißig Seen, über neunhundert Inseln und unzähligen Buchten. Gerade jetzt, wo die Abendsonne glutrot von den Spitzen der Nadelbäume tropft, sich dann langsam zu deren Füßen über die mit Flechten und Moosen bewachsenen Granitfelsen schiebt, um von dort auf den Wellen des Rainy Lakes davonzutanzen. Majestätisch, wie es sich für das Wappentier der USA gehört, thront ein Weißkopfseeadler auf einer Insel hoch oben im Geäst einer mächtigen Rotkiefer. Feine Nebelschleier steigen unterdessen über dem Wasser empor. Bereichern das grandiose Schauspiel der Natur, das vom Konzert der Seetaucher noch aufs Schönste untermalt wird, sobald man sich einer Schilfzone nur nähert. Wie zwei Flötenspieler, die sich im Duett herausfordern, rufen die Vögel einander im steten Wechsel zu. Es sind einsame, wehmütige Töne, die uns begleiten, während wir im ständigen Slalom um große, kleine und winzige Inseln herumziehen. Immer an der bewaldeten Kabetogama Landzunge entlang, die sich im Zentrum des Nationalparks mit unzähligen Buchten ergießt. Vollkommen von Seen umspült und nur über einen schmalen Landsteg im Westen mit dem Festland verbunden, gehört sie den Bären, Wölfen und vielen anderen, selten gewordenen Tiere. Der Mensch ist in dieser von Wasseradern und Mooren durchzogenen Wildnis nur im Kanu oder auf einer der vier vorgegebenen Wanderrouten Willkommen. Fern ab von allen Straßen und Siedlungen reduziert sich das hektische Leben mit einem Schlag aufs elementare. Dabei ist es so faszinierend und facettenreich wie ein Blick durchs Kaleidoskop. Statt immer nur auf die großen Attraktionen zu lauern, beginnt man, über die kleinen Dinge zu staunen. Man träumt mit offenen Augen. Durchlebt ständig diese gewisse Spannung, dieses Entdeckerfieber, was einen wohl hinter der nächsten Bucht erwartet. Wie etwa vorhin, die Schwarzbärin, die mit ihren beiden Jungen unvermutet auf einer Lichtung am Ufer erschien. Oder die Schar weißer Pelikane, die von uns aufgeschreckt, mit laut klatschenden Flügeln davonflog. Wer weiß - gut möglich, dass uns vor rund zweihundert Jahren auf dieser Route irgendwann der Gesang der Voyageurs entgegen gehallt wäre. Und dann hätten wir sie wohl auch schon in Sichtweite gehabt. Jene französisch-kanadischen Abenteurer, um die sich bis heute ein Heldenmythus rankt und nach denen dieser Nationalpark benannt wurde. Little American Island im Norden der Black Bay Narrows zeugt heute noch vom kurzen Goldrausch in der Rainy Lake Region. Nachdem man dort 1893 das kostbare Edelmetall in einer Quarzader entdeckt hatte, fielen die Glücksritter gleich in Scharen ein. Overson’s Fish Camp, weiter östlich in der Alder Creek, erinnert dagegen an die kommerzielle Fischerei, die in den 20er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. »Es waren Tonnen von Zander, Schwarzbarsch und Hecht, die wir in den Netzen hatten«, schwärmt Jo, ein rüstiger Pensionär, den wir unterwegs auf seinem Motorboot treffen. Wie schon sein Vater besaß auch er eine Fischerei Konzession für diese Region. Heute, so sagt er, angle er »nur noch aus Spaß an der Freud«. Dabei verschweigt er, dass die extensive Ausbeutung der Seen und Flüsse die meisten Fischer am Ende ihre Existenz gekostet hat. Der kostbare Stör, zum Beispiel, den die Indianer früher mit Speeren an den Kettle Falls Stromschnellen erbeutet hatten, war nach dem Einsatz der Netze schon bald so gut wie ausgerottet. Raubbau an der Natur, der von den Holzfällern in jenen Tagen noch übertroffen wurde. Mit ihren Sägen zerstörten sie ganze Urwälder und brachten Millionen jahrhundertealter Weiß- und Rotkiefern zu Fall. »Der technische Fortschritt machte die Menschen euphorisch. Für sie war es sicher eine unglaublich spannende Zeit«, meint Bob, ein Nachfahre der Williams Familie, die damals das historische Kettle Falls Hotel im Osten der Kabetogama Halbinsel betrieben hat. Dort, wo sich die Wasserwege kreuzen und eine kanadische Landzunge unvermutet im Süden der USA auftaucht, kann man die Historie förmlich atmen. Klar, weshalb das Hotel als einziges Unternehmen im Naturschutzgebiet verbleiben durfte. Ein eher notwendiges Übel sind dagegen die beiden Staudämme, die hier 1905 über den einst rauschenden Squirrel und Kettle Falls Kaskaden entstanden. Mit einem weiteren Damm am Ablauf des Rainy Lake wurde so für die Papiermühle in International Falls und deren Pendant auf kanadischer Seite heute eine konstante Wasserzufuhr gesichert. Für die Produktion unverzichtbar, fürs ökologische Gleichgewicht jedoch verheerend. Doch als größte Arbeitgeber garantieren die Betriebe den Menschen in dieser Abgeschiedenheit seit Generationen schon Arbeit und Lohn. In rasanter Zickzack-Fahrt geht es mit dem Wassertaxi von der Kettle Falls Marina am Namakan See über den Sand Point und Crane Lake direkt bis ans südöstliche Ende des Parks. Sozusagen fließend setzt sich der Naturschutz dort mit der angrenzenden Boundary Waters Canoe Area Wilderness (kurz BWCAW) fort. Hinter der etwas umständlichen Bezeichnung verbirgt sich eines der schönsten und größten Rudergebiete der Welt. Ein Biotop mit über 1000 Seen und endlos verschlungenen Wasserwegen. Theoretisch könnte man sich also auch heute noch über den historischen Pelzhandelshighway bis ans 483 Kilometer entfernte Ufer der Großen Seen durchschlagen. In der Praxis wird man sich aus Zeitmangel aber wohl eher für einen Teilbereich entscheiden. Unser Wunschziel, der Little Indian Sioux River, ist mit dem Auto in gut einer Stunde fast erreicht. Ein kurzer Stopp in der hübschen Kleinstadt Ely, einer Mischung aus Schweizer Alpendorf und Disneyland, versteht sich dabei von selbst. Einsam, inmitten des Superior National Forest gelegen, dient sie als Tor zur BWCAW und bietet eine willkommene Einkaufsmöglichkeit, bevor man sich in die Wildnis hinein begibt. Nach Tagen voller Sonnenschein sorgt ein ständiger Nordwind für merkliche Abkühlung. Was durchaus auch sein Gutes hat. Praktisch über Nacht hat sich damit in den Kronen der Laubbäume das Feuerwerk des Indian Summer entzündet. Ahorn, Erlen und Papierbirken erstrahlen plötzlich in den schönsten Farbschattierungen. Leuchtendes Scharlachrot und Magenta neben Gelbgrün und Gold - wunderschön getragen vom dunklen Grün der Kiefern und Balsamföhren. Ein prächtiger Rahmen für den tosenden Devil’s Cascade Wasserfall, über dem wir in der ersten Nacht campieren. Bloß nicht daran denken, aber mit dem Wetterumschwung könnten jetzt im September schon bald wieder die ersten Nachtfröste einsetzen und der ganzen Pracht ein schnelles Ende setzen. Hier, in der südlichen borealen Waldzone, wo die letzte Eiseskälte noch im späten Mai auftreten kann, bleibt der Natur kaum mehr als eine kurze Vegetationsperiode von 100 Tagen. Umso mehr gilt es, diese kurze Schönwetterphase zu nutzen. Er ist der kälteste, tiefste und unberechenbarste der fünf Seen, die gemeinsam die Great Lakes bilden. Das größte Süßwasserbecken der Erde. See ist dabei mehr als irreführend, denn der Superior kommt daher wie ein gewaltiger Ozean. Nur gut, dass Grand Portage während der Überfahrt zur Isle Royal stets in Sichtweite liegt und Manitou die Wogen heute tatsächlich ruhig hält.
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